Seit fast vier Jahren verhandeln die EU-Staaten über eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). Gerade auch aus Deutschland kommen erschreckend restriktive Entwürfe. Ein neuer Vorschlag aus dem Raum der Kirchen will nun den Blick wieder stärker auf die Menschenrechte von Schutzsuchenden richten.
Nach der Aufnahmekrise von 2015/16, die für viele Geflüchtete in Griechenland, Ungarn und weiteren europäischen Staaten bis heute anhält, kam es nicht nur in Deutschland zu einer Serie von Gesetzesverschärfungen. Auch auf europäischer Ebene herrschte bald Konsens: Das erst 2013 verabschiedete und bis 2015 in Kraft getretene Regelwerk des GEAS müsse überarbeitet werden, und zwar so, dass es nicht noch einmal zu großen Flüchtlingswanderungen durch Europa kommen könnte.
Im Mittelpunkt der Vorschläge, die die damalige EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker in Windeseile erarbeitete und im Mai 2016 vorlegte, standen deshalb Regelungen, die die Rückschiebung in „sichere“ Drittstaaten außerhalb Europas erleichtern und die sog. „Sekundärmigration“ erschweren sollten. Wenn Geflüchtete wegen der schlechten Lebensbedingungen im ersten Aufnahmestaat weiterziehen, sollten nicht die Lebensbedingungen dort verbessert, sondern im zweiten Staat Aufnahme und Versorgung vollkommen verweigert werden. Gleichzeitig sollte ein – wenn auch wenig praktikabler – Verteilungsmechanismus etabliert werden.
Eine Einigung kam vor der Europawahl nicht mehr zustande. Während Staaten wie Italien und Griechenland fürchteten, aufgrund der vorgeschalteten Zulässigkeitsprüfung weiter für einen großen Teil der Verfahren allein zuständig zu bleiben, lehnten Ungarn, Polen und die weiteren „Visegrad-Staaten“ jeden Ansatz zu einer Verteilung von Geflüchteten ab.
Die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen hatte sich kaum formiert, als das Bundesinnenministerium mit einem Vorschlag zur GEAS-Reform vorpreschte. Der Entwurf vom November 2019 sieht u. a. vor, dass Asylverfahren zu einem großen Teil in Haftlagern direkt an den Außengrenzen geführt und als Schnellverfahren abgewickelt werden sollen. Zuständig soll möglichst nicht mehr ein Mitgliedstaat, sondern das europäische Asylunterstützungsbüro EASO sein. Wie in solchen Lagern der Rechtsschutz gewährleistet werden soll, blieb offen. Mit Blick auf die horrenden Zustände, die aktuell in den griechischen „Hot Spots“ herrschen, kritisierte Pro Asyl die Vorschläge umgehend als den Versuch, ein gescheitertes Modell als neu zu verkaufen. Nichtsdestotrotz hofft man im Innenministerium, dass die Kommission in ihren für März erwarteten eigenen Entwürfen dem deutschen Vorschlag weitgehend folgen wird. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 soll dann dafür genutzt werden, die Zustimmung der übrigen Mitgliedstaaten zu suchen.
Aus dem Raum der Kirchen kommt jetzt ein Gegenvorschlag, der die Rechte der Geflüchteten stärker in den Mittelpunkt stellt. Prälat Karl Jüsten, als Leiter des Katholischen Büros Vertreter der Deutschen Bischofskonferenz beim Bund, stellte ihn bei den Hohenheimer Tagen zum Migrationsrecht vor. Wir dokumentieren einen Auszug aus seiner Rede:
„Die Diskussion über das Funktionieren, oder besser gesagt Nichtfunktionieren, des griechischen Asylsystems begleitet uns nunmehr seit Jahren. Auch die erschreckenden Bilder aus den Hotspots auf den griechischen Inseln sind allgegenwärtig. Ich kann mir nicht vorstellen, wie dort – oder in einer anderen Einrichtung – ein funktionierendes, schnelles, die Menschenrechte achtendes Verfahren durchgeführt werden soll.
Inhaltliche Prüfungen sollten nicht direkt an der Außengrenze durchgeführt werden. Qualitative Verfahren können nicht innerhalb weniger Tage durchgeführt werden.
Den Schutzsuchenden muss die Möglichkeit gegeben werden, zur Ruhe zu kommen um über das Schreckliche, das sie erlebt haben, überhaupt sprechen zu können. Durch die unabdingbare Möglichkeit, Rechtsschutz einlegen zu können, besteht die Gefahr, dass Personen über einen langen Zeitraum auf eine endgültige Entscheidung warten müssen und die Unterkünfte „vollaufen“.
Materielle Entscheidungen sollten deshalb erst nach einer Verteilung in den dann zuständigen Mitgliedstaaten getroffen werden. […]
Ein gemeinsames europäisches Asylsystem, das in der Praxis auch dann funktioniert, wenn eine Vielzahl an Personen um Schutz nachsucht, ist neben der Akzeptanz der Mitgliedstaaten wesentlich auf die Akzeptanz der Schutzsuchenden angewiesen.
Schutzsuchende sind sicher bereit, eine Verteilung anzuerkennen, wenn ihre Anliegen – wie etwa Familie, Voraufenthalte oder Sprachkenntnisse – im Entscheidungsprozess berücksichtigt würden. […]
Sowohl dem Ziel der Erklärung von Tampere als auch dem von politischer Seite immer wieder erklärten Willen, sogenannte Sekundärmigration zu bekämpfen, käme man sicherlich auch näher, wenn es Menschen, deren Schutzanspruch feststeht, möglich wäre, auch in einem anderen Mitgliedstaat nach Arbeit zu suchen und sich dort niederzulassen, wenn sie ihren Unterhalt selbst sichern können.
Ein derartiges System könnte die Solidarität der Mitgliedstaaten fördern, würde aber gleichzeitig anerkennen, dass es sich auch bei den Schutzsuchenden um mündige Menschen mit Fähigkeiten, Potenzialen und Lebensplänen handelt.“
Eine Verteilung, die familiäre Bindungen und weitere Interessen der Betroffenen berücksichtigt, eine Orientierungsphase vor Eintritt ins Asylverfahren, qualifizierte und unabhängige rechtliche Beratung und Vertretung, die Garantie eines effektiven Rechtsschutzes und ein Freizügigkeitsrecht für anerkannte Geflüchtete, zumindest wenn sie Arbeit in einem anderen Mitgliedstaat finden: Das würde noch nicht alle Probleme lösen. Aber es wäre ein dringend fälliger Schritt in der europäischen Asylpolitik weg von immer restriktiveren, ausgrenzenderen Ansätzen und zurück zu einem starken menschenrechtlich fundamentierten Schutzkonzept.