Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden: Ein Großteil der Sanktionskürzungen im Arbeitslosengeld II sind verfassungswidrig. Dies betrifft ggf. auch anerkannte Geflüchtete mit einer Aufenthalts- oder Niederlassungserlaubnis, wenn sie existenzsichernde Leistungen beziehen. Grundsätzliche Erwägungen der Entscheidung dürften sich aber auch auf die Leistungen für Asylsuchende und Geduldete übertragen lassen.
Das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum sei verletzt, so die Karlsruher RichterInnen, wenn Leistungen starr für drei Monate um 30 % gekürzt würden, ohne dass Härtefälle berücksichtigt werden und ohne dass LeistungsbezieherInnen durch eigenes Verhalten die Kürzung abwenden können. Auch die noch schärferen Kürzungen um 60 oder sogar 100 % dürfen vorläufig nicht mehr angewendet werden. Dabei betonte das Gericht, dass teilweise Streichungen von Leistungen zwar grundsätzlich zulässig seien, jedoch nur da, wo Betroffene es ablehnten, die eigene Bedürftigkeit durch zumutbare Arbeit zu beenden. Den Grundsatz des „Fördern und Forderns“ stellt es also nicht in Frage. Kürzungen um mehr als 30 % würden aber „tief in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum“ hineinreichen; bei den Kürzungen um 60 oder 100 % sei zudem nicht erwiesen, dass sie einen stärkeren Anreiz zur Arbeitsaufnahme setzen als die um 30 % (BVerfG, Urteil vom 05. November 2019,
1 BvL 7/16).
Das Urteil wirft viele Fragen auf. Ist also das Existenzminimum doch nicht absolut gewährleistet? Gibt es eine „Menschenwürde mit Rabatt“? Für den Flüchtlingsbereich stellt sich aber insbesondere die Frage, ob auch die immer zahlreicheren Kürzungsgründe im Asylbewerberleistungsgesetz und die inzwischen standardmäßige drastische Kürzung auf „Bett, Brot und Seife“ – also Leistungen für Unterkunft, Ernährung und Körperpflege, § 1a Abs. 1 AsylbLG – das Grundgesetz verletzen.
Für eine Verfassungswidrigkeit spricht zunächst die Höhe der verbleibenden Leistungen. Bei einer Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 1 AsylbLG soll der gesamte Geldbetrag für das soziokulturelle Existenzminimum („notwendiger persönlicher Bedarf“) nicht mehr gewährt werden. Bereits das bedeutet eine Kürzung um 150 Euro oder 43 % des Bedarfs, der zusätzlich zu den Unterkunftskosten erbracht werden muss. Zusätzlich wird aus dem Betrag für das physische Existenzminimum („notwendiger Bedarf“) noch der Betrag für Schuhe und Kleidung gestrichen. Es spricht viel dafür, dass hier bereits ein Einschnitt „tief in das grundrechtlich gewährleistete Existenzminimum hinein“ vorliegt, der per se verfassungswidrig wäre. Auch die Befristung auf sechs Monate ohne weitere Differenzierung (§ 14 Abs. 1 AsylbLG) weckt Bedenken. Und nicht zuletzt erscheint fraglich, ob der Grund, der beim Arbeitslosengeld II die Kürzung rechtfertigen soll, nämlich, dass Betroffene durch eigenes Verhalten ihre Bedürftigkeit beenden könnten, dies aber ohne triftigen Grund nicht tun: ob dieser Grund den Anspruchseinschränkungen im AsylbLG überhaupt zugrunde liegt. Denn die Kürzungen im AsylbLG setzen fast alle da an, dass die Betroffenen sich „zu Unrecht“ in Deutschland aufhalten. Das geforderte Alternativverhalten wäre also ein Verlassen der Bundesrepublik – das bedeutet zum einen, dass volle Leistungen praktisch gar nicht mehr zugänglich sind, denn außerhalb Deutschlands besteht kein Leistungsanspruch; zum anderen dürfte in vielen Fällen fraglich sein, ob denn im anderen EU-Staat (bei Dublin-Verfahren) oder im Herkunftsland (bei Abschiebungen) das Existenzminimum gesichert wäre. Mit Kürzungen unter das Existenzminimum eine Ausreise in eine Situation zu erzwingen, in der das Existenzminimum ebenfalls nicht gesichert wäre, erscheint aber schwer mit der Logik des BVerfG vereinbar zu sein.
Einen anderen Weg wählt das Sozialgericht Landshut in einer aktuellen Entscheidung: Das Gericht hält die seit Anfang September geltenden pauschalen Leistungskürzungen um 10 % bei Gemeinschaftsunterbringung, die sogenannte „Zwangsverpartnerung“, für potentiell verfassungswidrig. Der Gesetzgeber habe nämlich nicht ermittelt, dass dieser Personenkreis tatsächlich einen um 10 % geringeren Bedarf habe. Die möglichst genaue Ermittlung des Bedarfs hatte das Bundesverfassungsgericht aber in seinen Grundsatzurteilen von 2010 („Hartz IV“) und 2012 (AsylbLG) vorgeschrieben. Das SG Landshut zieht daraus den Schluss, dass den Klägern erst einmal weiter „normale“ Asylbewerberleistungen gewährt werden müssen. Langfristig dürfte es sein Verfahren dem Bundesverfassungsgericht vorlegen, zur Prüfung, ob auch diese Form der Leistungen verfassungswidrig ist (SG Landshut, Beschluss v. 24.10.2019, S 11 AY 64/19 ER ).
Fazit: Die Strategie der Bundesregierung, gerade mit dem „Migrationspaket“ noch einmal verschärft, das Asylbewerberleistungsgesetz als Mittel zu instrumentalisieren, um Menschen zur Ausreise zu drängen, die ansonsten zu dulden wären, hat mit den jüngsten Entscheidungen weitere Risse bekommen. Betroffene sollten Leistungseinschränkungen nicht still hinnehmen, sondern sich qualifziert beraten lassen und ggf. Rechtsmittel einlegen. Dabei ein Hinweis in eigener Sache: bei fluchtpunkt findet KEINE Beratung in sozialrechtlichen Angelegenheiten statt!