Das Hamburger Amt für Migration plante, Familie S. nach Serbien abzuschieben. Es handelte sich um die Eltern und drei Kinder im Alter von drei, neun und zwölf Jahren. Das Amt selbst hatte die Mutter ärztlich untersucht und dabei zwar eine Flugfähigkeit bejaht, jedoch auch festgestellt, dass schwere psychische Erkrankungen mit Depressions- und Angstsymptomen vorlagen und dass sie umfassend auf Betreuung und Lebenshilfe ihrer Familie angewiesen ist. Die Betroffene sollte nach ihrer Abschiebung am Flughafen Belgrad an einen Arzt übergeben werden.
Nach Aktenvermerken war dem Amt u.a. bekannt, dass Frau S. anlässlich einer Untersuchung in den Räumen der Ausländerbehörde sich nicht alleine ausziehen konnte, sich einnässte und nur auf Ansprache ihres Ehemannes reagierte.
Am Morgen der Abschiebung kollabierte der Vater, der daraufhin zur Untersuchung ins Krankenhaus gebracht wurde, wo er kurze Zeit später wieder entlassen wurde. Das Amt für Migration entschied sich in diesem Moment, die Familie zu trennen und Frau und Kinder allein abzuschieben. Es befanden sich Ärzte an Bord, am Flughafen in Belgrad jedoch wurde ihnen das Aussteigen verweigert.
Das Oberverwaltungsgericht urteilte, dass die Abschiebung rechtswidrig war. Durch die Abschiebung wurden die Betroffenen tiefgreifend in ihren Grundrechten nach Art. 6 GG (Familie) und ihrem Recht auf Art. 2 GG (körperliche Unversehrtheit) verletzt. Das Gericht entschied, dass es der Behörde aus der ex-ante-Sicht hätte klar sein müssen, dass vorliegend eine getrennte Abschiebung nicht in Betracht kommt. Frau S. war dermaßen krank und hilfebedürftig, dass die Abschiebung der Kinder mit einer Situation der Abschiebung unbegleiteter Minderjähriger im Sinne des § 58 Abs. 1a AufenthG vergleichbar ist. Der Behörde war bekannt, dass eine Abschiebung der Mutter ohne ihren Mann diese hilflos und ohne eigene Handlungskompetenz zurücklässt. In einer solchen Situation wäre es entsprechend § 58 Abs. 1a AufenthG dem Kindeswohl entsprechend darauf angekommen sicherzustellen, dass diese einem geeigneten und sicheren Aufnahmeumfeld übergeben werden. Die Zusage der serbischen Behörden über die Präsenz eines Arztes oder Psychiaters am Flughafen in Belgrad genügte diesen Anforderungen nicht. Vor der Abschiebung wären Schutzvorkehrungen zu treffen gewesen.
Frau S. war nicht nur auf eine medizinische Begleitung, sondern darüber hinaus auf eine umfassende familiäre Fürsorgebetreuung angewiesen, wie sie durch Art. 6 Abs. 1 GG auch zwischen erwachsenen Familienmitgliedern geschützt wird. Die Anwesenheit ihres Ehemanns wäre erforderlich gewesen, um den für die Ausländerbehörde erkennbaren Verlust ihrer Autonomie und Würde zu kompensieren. Vor der Erwägung einer getrennten Abschiebung wäre es die Pflicht der Behörde gewesen, aus Gründen des Gesundheitsschutzes eine ärztliche Stellungnahme darüber einzuholen, wie sich diese auf die einzelnen Beteiligten auswirken würde.
Das Urteil des OVG ist ein wichtiges Signal, dass Abschiebungen nicht um jeden Preis durchgeführt werden dürfen und dass Kindeswohl und gesundheitliche Aspekte ernstzunehmen sind. Die Einstellung, dass attestierte Erkrankungen (auch nach nicht erfolgreicher Geltendmachung im Asylverfahren) nicht ernstzunehmen seien und erkennbare Symptome als simuliert abzutun, kann schwerwiegende Folgen haben. Vorliegender Fall ist besonders bemerkenswert, da der Behörde selbst die krankheitsbedingte Situation bekannt war, sie sich dennoch darüber hinwegsetzte und Aspekte des Kindeswohls nicht einmal erwogen hat. Wenn durch das ordnungsrechtliche Instrument der Abschiebung selbst Grundrechte verletzt werden, geht vom Staat die eigentliche Gefahr aus und nicht durch kranke Mütter und deren Kindern, die ihrer Ausreisepflicht nicht nachgekommen sind.
Das ganze Urteil können Sie hier lesen: 20220530_OVG_Urteil für HP