Wie sind die Lebensverhältnisse im Ankunftszentrum Rahlstedt wirklich? Die Antwort vieler Geflüchteter, die dort in den letzten Monaten gelebt haben, deuten darauf hin: schlimmer, als man sich vorstellt. Das zeigt sich in Interviews, die wir in den letzten Monaten geführt haben und über die jetzt in verschiedenen Medien berichtet wurde.
Fehlende Rückzugsorte, keine Privatsphäre, Lärm, unsaubere Sanitäreinrichtungen, Störungen der Nachtruhe, Stress, Aggressionen unter den BewohnerInnen, beständige Unsicherheit: Wie ein roter Faden ziehen sich solche Wahrnehmungen und Erlebnisse durch die Erzählungen der Befragten. „Es gibt keine Privatsphäre, man kann alles sehen, man kann nicht in Ruhe essen oder trinken. Für Kinder ist es dort untragbar“, fasst es eine Mutter zusammen, die mit uns sprach.
Erschreckend oft berichten BewohnerInnen von Gewalt: „Ich habe die Zeit als sehr belastend empfunden, nie gab es Ruhe, ständig kam die Polizei, ständig Gewalt und Streit.“ – „Es gab viel Streit, vor allem zwischen den Arabern und den schwarzen. Einmal sind sie sogar mit kaputten Flaschen aufeinander losgegangen.“ – „Nach meinen traumatischen Gewalterlebnissen in meinem Herkunftsland hatte ich gehofft, Frieden zu finden. Stattdessen landete ich in einem sehr gewalttätigen Umfeld — trotz meiner Versuche, mich aus allem herauszuhalten, wurde ich sogar geschlagen und alte Wunden aus meiner Heimat gingen wieder auf. Ich habe mich immer wieder an die Sozialarbeiter gewandt, erhielt jedoch keinerlei Unterstützung oder Hilfe.“ So berichteten verschiedene Betroffene.
Das Ankunftszentrum Rahlstedt liegt in einem Gewerbegebiet im Hamburger Osten in umgebauten Gewerbegebäuden. Die Menschen dort leben mitten in Hamburg – und doch am Rand. Wege in die Stadt sind lang, Besuche nicht zugelassen. Auch die Schlafunterkünfte sind ehemalige Lagerhallen. Sie sind durch dünne Trennwände in „Compartments“ geteilt, die oben offen sind. In den Compartments können bis zu 16 Personen untergebracht sein. Nach oben sind die Compartments offen, akustisch gibt es keine Trennung. Es gibt ein gemeinsames Hallenlicht, das von 8:00 h bis 22:00 h eingeschaltet wird. An den Betten der BewohnerInnen sind zudem Leselampen befestigt.
Das Zentrum wurde 2016 errichtet, um nach den Erfahrungen des Herbstes 2015 auf die Ankunft einer großen Anzahl von Geflüchteten vorbereitet zu sein. Diese sollten schnell registriert und vorläufig untergebracht werden können. Ankommende Flüchtlinge wurden ursprünglich innerhalb weniger Tage auf andere Unterkünfte weiterverteilt. Im Lauf des Jahres 2018 wurden viele Erstaufnahme-Standorte aber geschlossen. Im Oktober 2018 wurde dann verfügt, dass Flüchtlinge in Dublin-Verfahren und solche aus sogenannten sicheren Herkunftsländern bis zu sechs Monate am Bargkoppelstieg bleiben müssen, ausgenommen Familien mit schulpflichtigen Kindern. Das Ankunftszentrum hat spätestens damit Züge eines „AnkER“-Zentrums Seehoferscher Prägung angenommen. Dabei sind diese Einrichtungen eigentlich Abschiebezentren – denn die Asylverfahren werden möglichst schnell abgewickelt, die meiste Zeit sollen die Menschen hier auf ihre Abschiebung warten.
Abschiebungen mitzuerleben, ist denn auch alltägliche Erfahrung, von den Betroffenen vielfach geschildert: Nachts würden sie miterleben, dass Polizei und Ausländerbehörde die Halle betreten, Schlafenden mit Taschenlampen ins Gesicht leuchten, um die zu finden, die sie abschieben wollen. Bis zu 20 Personen würden dann kommen, berichtete uns ein junger Iraner. „Sie kommen oft um 1 oder 2 Uhr morgens, durchsuchen die Räume, leuchten den Leuten mit Taschenlampen ins Gesicht, brüllen rum“, schildert ein Afghane. Die Folge: Viele BewohnerInnen, die mit uns sprachen, leben in ständiger Angst.
Wir können die Angaben der Befragten nicht überprüfen, denn wer nicht dort wohnt oder arbeitet, hat keinen Zutritt zum Ankunftszentrum. Und wir konnten nur eine begrenzte Anzahl von Gesprächen führen, etwa ein Dutzend. Doch die immer wiederkehrenden Themen, die fast gleichlautenden Beschwerden von ganz verschiedenen Menschen, die sich untereinander nicht kennen, nicht einmal die gleiche Sprache sprechen, belegen: Das Leben in Rahlstedt wird durchweg als stark belastend empfunden – das Ankunftszentrum macht die Menschen krank.
Es fällt schwer, sich diese Form der Unterbringung anders zu erklären, als dass durch Unsicherheit, Angst, fehlende Privatsphäre ein beständiger Druck auf die dort lebenden Menschen ausgeübt werden soll, von sich aus das Land zu verlassen. Doch Menschen absichtlich unter fragwürdigen Bedingungen hausen zu lassen, um sie zur Ausreise zu drängen – das rührt an die Menschenwürde.
Die Interviews belegen aus unserer Sicht: Das Ankunftszentrum mag als Behördenzentrum funktionieren – als Unterkunft für Geflüchtete ist es nicht geeignet. Und mit der Verlängerung der Wohnpflicht haben sich die Probleme verschärft. Eine solche Unterbringung ist Menschen nicht über längere Zeit zumutbar. Wir fordern deshalb: Das Ankunftszentrum Rahlstedt darf in dieser Form nicht weiter genutzt werden. Mindestens muss zurückgekehrt werden zur früheren Regelung, nach der eine Weiterverteilung auf dezentrale Erstaufnahme-Standorte innerhalb weniger Tage erfolgte.
Mittelfristig muss aus unserer Sicht das gesamte Verfahren im Ankunftszentrum umstrukturiert werden. Den Asylsuchenden muss eine Ruhe- und Orientierungsphase von mindestens drei Wochen eingeräumt werden. In dieser Zeit müssen sie sich umfassend über das Asylverfahren informieren können und schon vor der Antragstellung verlässlichen Zugang zu qualifizierter und unabhängiger rechtlicher Beratung haben. Zudem braucht es Regelungen, die sicherstellen, dass Menschen mit besonderen Schutzbedarfen – wie Minderjährige, Schwangere, Familien mit Kindern, aber insbesondere auch psychisch Traumatisierte sowie Gewalt- und Folteropfer – zuverlässig erkannt werden, dass sie die notwendige Betreuung erhalten und dass ihre Bedürfnisse im weiteren Verfahren berücksichtigt werden.
In der taz sind am 9.11.2019 ein Bericht und ein Kommentar zu den Lebensbedingungen im Ankunftszentrum erschienen, der Deutschlandfunk berichtete am 11.11.2019. Darin kommen auch einige unserer KlientInnen und BeraterInnen zu Wort.